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Fritz Kalkbrenner
Grand Départ
Mit seinem neuen, vierten Soloalbum »Grand Départ« setzt Fritz Kalkbrenner konsequent die Richtung fort, die er mit seinem letzten, erfolgreichen Album »Ways Over Water« vor zwei Jahren eingeschlagen hat. Der Ostberliner Sänger, Produzent und Komponist übertrifft sich mit meisterhaften Arrangements und wuchtig-analogen Soundgebilden, in deren präzisem Sound-Design man sich gerne verliert.
»Grand Départ« ist der Starttag der Tour de France und steht bei Kalkbrenner symbolisch für den großen Aufbruch von einer kreativen Idee hin zu einem Gesamtkunstwerk, das den Titel eines »Albums« tatsächlich verdient. Hier handelt und denkt der Künstler bewusst antizyklisch: Vom Album als Format, seit Jahren immer wieder gerne totgesagt, auch und ganz besonders leidenschaftlich im Genre der elektronischen Musik, kann und will er nicht ablassen. Ihn beschäftigt auch im Zeitalter selbstkuratierter Playlisten noch das perfekte Sequencing. Andererseits referenziert der Albumtitel auch die Atmosphäre des französischen Kinos der späten sechziger Jahre, — der schwere, rauchige und erdige Sound von Holz- und Blechbläsern erinnert an die Film-Noir-Patina von Melville-Werken wie »Le Samouraï« mit Alain Delon, an die »Serviettenfärbung und die Vorhänge im Rauchergelb«, wie Kalkbrenner scherzhaft bemerkt. Genau dieser ästhetische Filter fungierte auch als Ausgangspunkt für die Covergestaltung von »Grand Départ«. Wenn man sich die Albentitel von Fritz Kalkbrenner anschaut, von »Here Today, Gone Tomorrow« über »Sick Travellin'« und »Ways Over Water« bis hin zu »Grand Départ«: Stets geht es um
Bewegung, um Veränderung, um die Reise als Metapher für den Weg von der Geburt bis zum Tod.
Aus dem gängigen Rahmen von Techno- und House-Musik hat sich der Sound von Fritz Kalkbrenner über die genannten Alben immer weiter entfernt. Seine größten Hits wie »Get A Life«, »Facing The Sun« oder »Back Home« - letzterer erreichte sogar Gold in Deutschland und der Schweiz - basierten auf sanften, souligen House-Beats mit Gitarre und Gesang. Als Jugendlicher entdeckte Kalkbrenner den HipHop und die House-Musik und begann, den Samples in diesen Collagen nachzuspüren. Er liebte den Groove, aber er liebte auch das musikalische Handwerk, wie es in der Soulmusik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre zur Perfektion getrieben wurde. Heute schlagen in Fritz Kalkbrenners Brust zwei Herzen, das eines Produzenten und Songwriters, aber auch das eines Sängers und Texters. Konkret lässt sich das am Anteil der Vocal-Stücke bemessen, der von Album zu Album zugenommen hat und auf »Grand Départ« nun bei gut zwei Dritteln im Verhältnis zu einem Drittel reiner Instrumentalstücke liegt. Auf der Deluxe-Version gibt es allerdings noch alternativ die »Versions« zu hören: Keine platten Instrumentale, sondern Quasi-Dub-Versionen aller Stücke, bei denen Kalkbrenner sämtliche Vocals durch andere Instrumentalspuren ersetzt und die Arrangements noch einmal angepasst hat.
Deep House nannte man damals™, in Kalkbrenners Jugend, die »tiefe« Tanzmusik vor allem afroamerikanischer Produzenten aus Chicago und Detroit. Längst hat der Begriff eine fundamentale Bedeutungsverschiebung erfahren. Wenn man mit Kalkbrenner über die Entwicklung der elektronischen Tanzmusik spricht, dann spürt man eine gewisse Melancholie. Zeitgenössische Clubmusik höre er privat kaum, »und wenn, dann unter akademischen Gesichtspunkten — was vielleicht auch mit dem zunehmenden Wegwerfcharakter dieser Musik zu tun hat. Seien wir ehrlich: Die Wahl zwischen KnüppelEDM und Gitarren-House kann es nicht sein.« Die Berührungspunkte mit dem, was in der elektronischen Clubmusik passiert, sind für ihn nur noch formeller Natur: Die gerade 4/4- Kickdrum, die zumindest einen Großteil der Songs auf »Grand Départ« immer noch durchzieht: »So viel Dancefloor muss schon sein.«
In Kalkbrenners Musik geht es um die Erhaltung eines Qualitätsmaßstabes, den außer ihm nur noch wenige Kollegen in der elektronischen Tanzmusik einzuhalten imstande sind. »Vom Nebulösen ins Konkrete« entwickelte sich eine Vision für den Sound von »Grand Départ«: Waldhorn. Posaune. Trompete. Flügelhorn. Orgel. Viola. Violine. Cello. Kontrabass. Holz- und Blechblasinstrumente, ungerade Drums, Klang, und vor allem: Textur. »Es geht oft mehr um die Textur als um das Spiel selbst. Drei Noten, gespielt auf einer 500-Kilo-Orgel, klingen nun mal geiler, als Brahms auf einem Casio-Keyboard.« In den neuen Stücken kombiniert Kalkbrenner melancholische Schwere mit etwas sehr Kraftvollem: »Party and Bullshit«, um mit The Notorious B.I.G. zu sprechen.
Fritz Kalkbrenner ist ein Musikliebhaber, aber kein Künstler, der sich in seiner Musikverliebtheit verliert. »Meine Musik war nie die schwierigste, komplizierteste und unverständlichste«, sagt er. »Ich mache keine Musik, die sich Menschen absichtlich verschließt.« Im Gegenteil, mit »Again« oder »Heart & Hands« sind auch auf »Grand Départ« wieder Stücke enthalten, die groß genug gedacht, angelegt und komponiert sind, dass sie ein enorm breites Anschlusspotenzial in sich tragen. Dabei verlassen sie sich aber nicht auf ein wie-auch-immer-geartetes Rezept, und wenn doch, dann einzig und allein auf das der Qualität des Songs.
»Grand Départ« ist ein großes Album, ein Statement eines Nonkonformisten, der sich nicht aus sturem Prinzip rückwärtsgewandt gibt — der aber auch nicht bereit ist, seine hohen Maßstäbe auf die Ebene allgemeiner Indifferenz herunterzufahren. Einen Spruch hat Kalkbrenner immer gerne zitiert, wenn er sich ewiggestrigen Altersgenossen in der musikalischen Diskussion gegenübersah: »Wer nicht mit der Zeit geht, muss mit der Zeit gehen.« Das Zitat gilt für ihn auch heute immer noch, nur der Standpunkt hat sich
geändert. »Vielleicht gehe auch ich tatsächlich irgendwann«, lacht Kalkbrenner. »Aber der Zeitpunkt ist noch lange nicht gekommen.« »Grand Départ« legt für diese Aussage ein beeindruckendes Zeugnis ab.